Die Vertreibung der Deutschen
Im Geschichtsunterricht wird dieses Thema kaum behandelt und generell sind nur wenige mit den Details der Deutschen „Völkerwanderung“ aus dem Osten nach 1945 vertraut. Doch dieses Ereignis, welches der amerikanische Historiker R.M. Douglas einst als „die größte Bevölkerungsbewegung der Weltgeschichte“ bezeichnete, hat die Landkarte Europas maßgeblich mitgestaltet und war ein Schlüsselereignis der europäischen Nachkriegsgeschichte, welches zwischen 12 und 14 Millionen Menschen die Heimat oder das Leben kostete.
Die direkten Gründe für die Vertreibung
Es dürfte niemanden überraschen, dass es in Osteuropa im Jahr 1945 eine generelle Abneigung und einen Hass gegen die Deutschen gab. Die Brutalität des Nazi Regimes erreichte einen traurigen Höhepunkt an Unmenschlichkeit und Grausamkeit unter dem die Völker der Region jahrelang schwer leiden mussten. Viele der in Osteuropa lebenden Deutschen hatten sich am Nazi-Terror beteiligt und auch bereichert. Das berühmteste, wenn auch untypischste Beispiel hierfür ist der Industrielle Oskar Schindler, welcher in dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik von, in diesem Fall jüdischen, Zwangsarbeitern profitierte. Doch nicht nur Juden wurden von den Nazis zu Zwangsarbeiten gezwungen. Auch schätzungsweise 1,5 Millionen Polen wurden nach Deutschland verschleppt, um als Zwangsarbeiter in deutschen Fabriken eingesetzt zu werden.
Die Nazi-Ideologie beinhaltete außerdem den Gewinn von „Lebensraum“ im Osten Europas, wozu es laut den Nationalsozialisten nötig war, die dort lebenden Völker, vor allem Slaven, welche sie als minderwertig betrachteten, auszulöschen. Neben den 6 Million Juden, wovon die meisten aus Osteuropa stammten, wurden auch zwischen 1,8 und 3 Million Polen (Polnisch stämmige Juden nicht miteinberechnet) und zirka 500.000 Serben, sowie viele andere Ethnien von den Deutschen ermordet.
Eines der bekanntesten Ereignisse dieser Zeit war die brutale Niederschlagung des Aufstands von Warschau im Jahre 1944, die 166.000 Menschen das Leben kostete und bis heute ein Sinnbild für die Brutalität der Besetzer ist. Dementsprechend groß war der Wunsch nach Rache in diesen Regionen, für die die Niederlage der Nazis den Weg frei machte.
Jedoch muss hier gesagt werden, dass dies nicht der einzige Grund für die Vertreibung der Deutschen war.
Politische Gründe für die Vertreibung
Durch den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 erhielt die Sowjetunion einen großen Teil des polnischen Territoriums. Moskau wollte dieses Land auch nach dem Zweiten Weltkrieg um jeden Preis behalten. Um das leidgeplagte Polen zu entschädigen, wurde deshalb bereits bei der Teheran Konferenz von 1943 beschlossen, dass die polnische Grenze nach Westen verschoben werden sollten. Die polnische Regierung, sowohl die kommunistische als auch die bürgerliche, war jedoch wenig begeistert ein Land zu erhalten, das von Millionen von Deutschen bewohnt wurde, weshalb sie die Forderung aufstellte, dass die Deutschen aus den neuen polnischen Ländern vertrieben werden sollten.
Polen war bei weitem nicht das einzige Land, welches die Deutschen nicht mehr als willkommen ansah. Hierbei muss bedacht werden, dass Hitlers Ausrede für die Invasion der Tschechoslowakei zunächst die war, dass er die große deutsche Bevölkerung des Sudetenlandes wieder an das Mutterland anschließen wollte. Dementsprechend sahen viele die Existenz einer deutschen Minderheit innerhalb der Landesgrenzen als ein Sicherheitsrisiko, dass es nach dem Horror der Nazi-Invasion unbedingt auszulöschen galt.
Der zweite Weltkrieg hatte die Probleme offenbart, die durch einen Vielvölkerstaat, beziehungsweise durch große ethnische und linguistische Minderheiten entstehen können. Die Idee des „ethnisch reinen Nationalstaates“ galt daher als erstrebenswert und die in Mittel- und Osteuropa lebenden Minderheiten waren dafür ein Hindernis und ein mögliches Risiko für die dortigen Staaten, weshalb Menschen fast überall in Mittel- und Osteuropa ihre Heimat verloren. Die Vertreibung betraf nicht nur Deutsche, sondern auch andere Völker, wie beispielsweise Serben, Polen oder Ungarn.
Außerdem waren die Deutschen vor allem Gläubige und viele von ihnen Nazis, oder zumindest ehemalige Nazis. Dem sowjetischen Anführer Stalin, welche zu diesem Zeitpunkt bereits plante Marionettenstaaten im Osten Europas zu errichten, war die überwiegend konservative und rechts-orientierte deutsche Bevölkerung ein Dorn im Auge.
Des Weiteren war den Siegermächten durchaus bewusst, dass Deutschland geschwächt aus diesem Krieg hervorgehen musste. Ein territorialer Verlust wurde daher, wie schon in dem Vertrag von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg, als Mittel zur Schwächung Deutschlands gesehen, welches nicht in der Lage sein sollte, einen weiteren Krieg anzuzetteln.
Im August 1945 endete die Potsdamer Konferenz der Siegermächte. Die Nazis waren zu diesem Zeitpunkt bereits besiegt. Im Potsdamer Abkommen ist die Vertreibung Millionen Deutscher aus ihrer Heimat bereits enthalten. Dort ist von einem „geordneten und humanen Transfer deutscher Bevölkerungsteile“ die Rede. Die Vertreibung hat zu diesem Zeitpunkt jedoch schon längst begonnen und ist weder geordnet noch human.
Die Flucht
Die Flucht der Ostdeutschen beginnt schon Ende 1944. Zu dieser Zeit kam die sowjetische Rote Armee immer näher an das Deutsche Kernland und fasste erstmals auch in Ostpreußen Fuß. Aus Furcht vor den Bolschewisten, die teilweise gerechtfertigt war und teilweise durch Nazi-Propaganda angeheizt wurde, verließen viele ihre Heimat, in denen ihre Familien oft schon seit Jahrhunderten lebten, und zogen gen Westen. Die Flucht fand meist in blanker Panik statt, weshalb die meisten Deutschen nur wenige Koffer mitnehmen konnten und fast alle ihre Besitztümer zurücklassen mussten.
Die Flucht erweist sich für viele als fatal. Es gab meist keine medizinische Versorgung, der schwere Winter 1944 machte den Zugang zu Nahrung, sowie den Transport schwierig und brachte außerdem Krankheit und Tod mit sich. Da viele aus Panik geflohen waren, waren sie auch denkbar schlecht auf die lange Reise nach Deutschland, vor allem im Winter, vorbereitet. Das größte Problem war jedoch die vorrückende Rote Armee, welche viele der langsamen Flüchtlingstrecks einholte und nicht selten Feuer auf die Flüchtlinge eröffnete und einige zur Zwangsarbeit verschleppte.
Es kam auch vor, dass Deutsche, die nach der Einkesselung von Königsberg (dem heutigen Kaliningrad) über die Ostsee fliehen wollten, von der Sowjetischen Luftwaffe oder Marine beschossen wurde. Das tragischste Beispiel hierfür ist das Schiff Wilhelm Gustloff, welches im Februar 1945 sank, da es von drei sowjetischen Torpedos getroffen wurde, was zum Tod von 9300 deutschen Flüchtlingen führte.
Das Schicksal der Verbliebenen
Auch die Deutschen, die ihre Heimat nicht vor Kriegsende verlassen wollten oder konnten mussten schweres Leid über sich ergehen lassen. Dies betraf sehr viele der Deutschen in den betroffenen Gebieten, da das NS-Regime sehr lange Durchhalteparolen herausgab und einige Gauleiter sogar die Flucht der Bürger verhinderten.
Schon vor Kriegsende nahmen Angriffe und Repressalien gegen die Deutschen drastisch zu. Angriffe, Zerstörung und Beschlagnahmung von Eigentum und sogar Morde gegen Deutsche wurden immer frequenter. Schätzungen zu Folge wurden in den direkten Nachkriegsjahren außerdem um die 1,4 Millionen deutsche Frauen Opfer von Vergewaltigungen.
Die Wut der unterdrückten Osteuropäer traf fast alle deutschstämmige und/oder deutschsprachige Menschen. Ob diese tatsächlich Nazis waren, war dabei oft Nebensache. In ihrem Buch „Flucht, Vertreibung, Mahnung: Menschenrechte sind nicht teilbar. Erfahrungen meines Lebens“ gibt die umstrittene ehemalige Vorsitzende des Bunds der Vertriebenen Erika Steinbach das Beispiel von Major Franz von Korab, einem Freund Oskar Schindlers. Dieser wurde kurz vor Kriegsende von den Nazis als Halbjude gebrandmarkt und aus der Wehrmacht ausgeschlossen. Später wurde er in der Tschechoslowakei von einer wütenden Gruppe von Menschen erschlagen.
Die Vertreibung
Die Flüchtlinge und Vertriebenen stammten aus ganz Mittel- und Osteuropa; die meisten aus Gegenden, die, wie zum Beispiel Pommern, Ostpreußen oder Schlesien, schon seit vielen Generation von Deutschen bewohnt waren. Bei manchen Vertriebenen handelt es sich jedoch um Siedler, die den Nazi-Traum des „Lebensraums“ erfüllen sollten.
Die Brutalität, mit der gegen die während der Vertreibung gegen die Deutschen vorgegangen wurde, ist dabei nicht zu unterschätzen. Der ehemalige Experte des UN-Menschenrechtsrates Prof. Dr. Alfred-Maurice de Zayas ging in einer Rede im Oktober 2020 sogar so weit zu sagen, dass die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa aus völkerrechtlicher Sicht als Völkermord kategorisiert werden könne.
Bis 1950 wurden schließlich fast alle Deutschen aus dem Sudentenland, Pommern, Königsberg (dem heutigen Kaliningrad) und anderen Regionen Mittel- und Osteuropas durch die Rote Armee vertrieben. Bis zu 14 Millionen Deutsche, ob Nazis oder nicht, verloren dadurch ihre Heimat. Viele wurden von den Sowjets zu Zwangsarbeiten unter menschenunwürdigen Bedingungen gezwungen, darunter auch viele Kinder. Laut dem amerikanischen Historiker John Dietrich betrug die Anzahl der deutschen Zwangsarbeiter in ganz Europa im Jahr 1947 um die 4 Millionen.
Die brutale Umsiedlung und Pogrome haben zwischen 600.000 und 2 Millionen Deutschen das Leben gekostet.
Warum sprechen wir heute so wenig darüber?
Während der direkten Nachkriegszeit war die Vertreibung durchaus ein brisantes und präsentes Thema in Deutschland und Europa, vor allem, da die Flüchtlinge in dem von Krisen geplagten Nachkriegsdeutschland alles andere als willkommen waren. Die neuen Grenzen, welche den endgültigen Verlust von Schlesien, Ostpommern und Königsberg besiegelten, wurden von der BRD-Regierung erst im Jahre 1970 anerkannt und selbst dann wurde diese Entscheidung von vielen Deutschen kritisiert, die diese Gebiete weiterhin als deutsch betrachteten.
Doch im Laufe der Zeit wurde vielen Deutschen die Brutalität des Naziregimes gegen Juden, Slaven und andere Ethnien in den besetzten Gebieten immer deutlicher. Im Inn- und Ausland wurden Diskussion über die Vertreibung immer mehr als ein Versuch gesehen die Deutschen in die Rolle der Opfer zu setzten und vom Nazi-Terror abzulenken.
Heutzutage wird das Thema kaum mehr behandelt. Selbst im deutschen Geschichtsunterricht kommt es kaum mehr vor. Das liegt auch daran, dass das Thema tatsächlich in den letzten Jahrzehnten von Rechtspopulisten und Geschichtsrevisionisten missbraucht wurde. Der oben zitierte Alfred-Maurice de Zayas, ein international anerkannter Experte auf diesem Gebiet, gab seine erwähnte Rede zum Beispiel vor der Desiderius-Erasmus-Stiftung, einer AfD nahen Institution und auch die zuvor genannte Erika Steinbach, langjährige Vorsitzende des von deutschen Flüchtlingen gegründete „Bund der Vertriebenen“, ist mittlerweile AfD-Mitglied. Dennoch ist es meiner Meinung nach wichtig, dieses Thema nicht einfach zu vergessen oder dem rechten Rand zu überlassen. Vor allem, weil es das heutige Osteuropa maßgeblich mitgestaltet hat und auch, weil viele Deutsche selbst Nachfahren von Vertriebenen sind und dieses Ereignis ein wichtiger Bestandteil ihrer eigenen Familiengeschichte ist.
Auch wenn die Vertreibung von den Schrecken des Nazi-Terrors überschattet wird, so bleibt sie doch ein wichtiges und tragisches Kapitel deutscher und europäischer Geschichte.
Nicolas Pérez Barley, S7DEA / EEB4 Laeken